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Geograph in dritter Familiengeneration

26. August 2021

Mit Ablauf des Monats Juli 2021 endete mit Erreichen der Regelalterszeit die Dienstzeit von Harald Zepp als Inhaber des Lehrstuhls „Physische Geographie/Angewandte Physische Geographie“. 1994 hatte er ihn als Nachfolger von Herbert Liedtke übernommen, dessen damaliger Lehrstuhl schlicht „Geographie IV“ hieß, während der seines Nachfolgers Christian Albert nun den Titel „Umweltanalyse und -planung in Metropolitanen Räumen“ trägt. Schon diese Veränderungen zeigen die vielfältigen Entwicklungen, die in den 27 Jahren Dienstzeit von Harald Zepp am Bochumer Geographischen Institut und im Fach Geographie erfolgt sind. Im Interview hält er Rückschau auf diese Zeit und auch auf die Zukunft, in der er der Ruhr-Uni  noch als Seniorprofessor zur Verfügung stehen wird.

Sie sind im Ruhestand, aber so ganz nun doch wieder nicht. Würden Sie das bitte erläutern?

Mit 66 Jahren mochte ich mich nicht von der wissenschaftlichen Geographie verabschieden. Die Fakultät hat zugestimmt, dass ich mich ab dem 1. August als Seniorprofessor im Angestelltenverhältnis ausgewählten Themen widmen darf, gewissermaßen im Mini-Job, mit der Möglichkeit, weiterhin Infrastruktur des Instituts zu nutzen. So ist zu beiderseitigem Vorteil der Übergang in den vollständigen Ruhestand abgefedert.

Können Sie uns einen kurzen Rückblick auf Ihre Zeit an der RUB geben?

Zu dem eindeutig positiv in Erinnerung Bleibenden gehört der freundschaftliche, menschliche und rücksichtsvolle Umgang in den verschiedenen, von Generation zu Generation wechselnden Lehrstuhlarbeitsgruppen. Ein solch gutes Arbeitsklima trug, und es relativierte manche Enttäuschung, die in der Komplexität des Wissenschafts- und Lehrbetriebs nicht ausbleiben kann: wenn zum Beispiel die eigenen Forschungsideen außerhalb (von externen Gutachtern!) nicht wertgeschätzt, d. h. „abgelehnt“ werden (Welche Kollegin und welcher Kollege könnte kein Lied davon singen) oder wenn eigene Vorstellungen intern in Fakultät und Institut keinen oder nicht den erhofften Anklang finden.
Zu den einschneidenden Erfahrungen gehörte, von einem auf den anderen Tag als Dekan allein da zu stehen und im Scharnier zwischen den Instituten, der Verwaltung und dem Rektorat zusätzlich Verwaltungsroutinen übernehmen zu müssen. Die sehr engagierte und erfahrene Dekanatssekretärin Frau Wieser-Brotte war plötzlich schwer erkrankt ausgeschieden. Sie kannte alle, auch die eher seltenen Verwaltungsabläufe bei Fakultätsratssitzungen, Stellenbesetzungen, der Abwicklung von Lehraufträgen, Finanzen etc. und die Eigenarten der Fakultätsmitglieder. Nun war ich Sekretär, Verwaltungsangestellter und Dekan in einer Person. Froh und dankbar war ich über die Unterstützung und „interne Fortbildung“ von hilfsbereiten Menschen in der Verwaltung innerhalb und außerhalb der Fakultät. Rückblickend habe ich die Erfahrungen aus über 10 Jahren Zugehörigkeit zum Dekanat, davon zwei Amtszeiten als Dekan, in guter Erinnerung. Diese Tätigkeit hat meine Perspektive auf Universität erheblich erweitert, und mitten drin im Geschehen zu sein gefiel mir. Besonders motivierend war und ist für mich der Kontakt mit der Vielfalt der Geowissenschaften, mit all den Phänomenen zwischen Erdmantel und Atmosphäre, zwischen naturwissenschaftlichem und kulturwissenschaftlichem Denken und Arbeiten einschließlich der Didaktik. Denn geowissenschaftliche Zusammenhänge sind mir persönlich wichtig, in Abwandlung des ehemaligen Vorlesungsthemas mit Heiner Dürr „Geo matters!“.

Welche Bedeutung messen Sie den Geowissenschaften bei?

Geowissenschaften prägen mein Weltverständnis, was auch biographische Wurzel besitzt, denn ich bin Geograph in dritter Familiengeneration. So wird vielleicht verständlich, dass ich die andernorts vollzogene Spaltung in naturwissenschaftliche und humangeographische Geowissenschaften nicht gutheißen kann. Gewiss: Es ist seit 150 Jahren richtig und notwendig, die Bedeutung einer breit aufgestellten Geographie als Teil der Geowissenschaften immer wieder neu zu überdenken. Angepasst an heute gängige Terminologie gilt für mich: Gespaltene Geowissenschaften werden den Herausforderungen von Globalisierung, Klimawandel und Konflikten im kleinen wie im großen Maßstab nicht gerecht. Fachliche Spezialisierungen sind unumgänglich; dessen ungeachtet sehe ich die Bereitschaft zum „Zusammen-und Neu-Denken“ von Natur und Kultur unter raumzeitlichen Perspektiven als ein Fundament und als die überragende Existenzberechtigung einer Fakultät für Geowissenschaften an.
Als ich in der ersten Hälfte der 1990er Jahre in Bochum anfing, kam „Nachhaltigkeit“ als wichtiges gesellschaftliches Leitbild auf die politische Agenda. Ich hielt Vorträge und beteiligte mich an Seminaren hierzu. Mein Wunsch wäre, dass die Geowissenschaften weiter mitmischen auf der Suche nach besonders tragfähigen Konzepten um das letztlich nicht einlösbare Leitbild mit fundierten Analysen und Handlungsvorschlägen zu konkretisieren. Nachhaltigkeit muss ausbuchstabiert werden, so dass die Worthülse lediglich als ein Einstieg in unverzichtbare, differenzierende Diskussionen dient; zu mehr taugt der Begriff nicht. Die Geowissenschaftler können die Erde nicht retten, aber geowissenschaftliches Verständnis kann – und zwar zuallererst! – dazu beitragen, dass das Wohlergehen der Menschheit noch ein Weilchen anhält und in den großen Teilen der Welt erst möglich wird, bevor einst Menschenleben durch anderes Leben auf dem Planeten abgelöst wird.

Womit haben Sie sich denn in der Geographie besonders gerne befasst?

Seit meiner Schulzeit hatte ich ein Problem: Ich war zu vielseitig interessiert. Bis heute habe ich nicht entschieden, wem ich den Vorzug geben soll, dem Studium der Erdoberflächenformen, der Stellung des Bodens im Abflussgeschehen, der Stadt- und Landschaftsökologie oder der Regionalen Geographie, von vielen abschätzig als Landeskunde verkannt, oder der Frage nach der „Einheit der Geographie“ als einer Mensch-Umwelt-Disziplin. Manchmal stutze ich, wenn ich die Themengebiete meiner Veröffentlichungen der vergangenen 40 Jahre Revue passieren lasse.
Viele Studierende kennen mich primär aus der wenig geliebten Vorlesung „Einführung in die Geographie“ (zuvor: Geography matters!), in der Heiner Dürr und ich versuchten wissenschaftstheoretische und -historische Inhalte zu vermitteln. Ich verstehe, dass Studienanfängerinnen und -anfänger vordergründig Handfesteres über Relief, Boden, Klima, Wirtschaft, Vegetation oder Städte hören und lernen möchten. Anregungen zur Selbstreflexivität und zur Positionierung von Geographen im historischen und gesellschaftlichen Umfeld kommen nicht so gut an, obwohl ich mich redlich abgemüht habe. Diese Vorlesung zu halten war so unendlich viel schwerer als meine „Geomorphologie“, „Landschaften Mitteleuropas“, „Wasserhaushalt“ zu lesen, „Randok“ (Räumliche Analyse und Dokumentation – mit Excel und ArcInfo) oder – in meiner Bonner Zeit – „Statistik-Übungen“ durchzuführen. Einen Lohn in Form positiver Rückmeldungen für den theoretischen Anfängerkram in „Geography matters!“ bekam ich selten, wenn, dann öfter von höheren Semestern, die auf ihr Studium zurückblickten.
Ich nehme für mich auch in Anspruch, Schuld an der Master-Lehrveranstaltung „Umweltprobleme und Umweltkonflikte“ zu sein – wieder so ein Kind, das sich äußerst wechselnder Beliebtheit bei Studierenden und Lehrenden erfreute. Irgendwie bin ich in die Position eines unverbesserlichen Anwalts hineingeraten, der verzweifelt – wenn schon nicht die Integration – dann wenigstens die Verknüpfung physisch-geographischer und humangeographischer Fachinhalte in der Lehre hochhält. Möge das in der ein oder anderen Form im Institut und in der Fakultät nicht verloren gehen. Ich weiß, der Grat, verschiedene Sach- und Fachbereiche sinnvoll zu verknüpfen, ist schmal, die Gefahr ins Triviale abzurutschen, ist ständig vor Augen.

Sie waren lange Modulverantwortlicher für die „Regionale Geographie“. Was bedeuten Ihnen Exkursionen?

Dass ich – und die meisten meiner Studierenden – besondere Freude an Exkursionen und Geländepraktika hatte, ist beinahe selbstverständlich, und so etwas gehört fast in jeden Rückblick eines Hochschuldozenten der Geographie. (Vorsicht Selbstlob:) Ich glaube, dass ich im Gelände besonders gut bin oder war. Geschockt war ich dann aber doch, als mehrfach auf meine Frage, nach den Erwartungen an eine bevorstehende Auslandsexkursion in erster Priorität mehrfach ein Begriff an die Pinwand geheftet wurden, mit dem ich als „ernsthafter“ Dozent nicht gerechnet hatte: Spaß haben! OK, ich bin lernfähig. Das zu schreiben hätten sich frühere Studierendengenerationen nicht erlaubt.
Exotische Ziele habe ich fast nie angeboten, mit Ausnahme von China und zuletzt Chile –  aber für diese Ziele kam keine kritische Masse, kamen nicht genügend Interessentinnen und Interessenten zusammen. Intensive Diskussionen in Kultur- und Naturlandschaften konnten wir dennoch, und zwar auf Exkursionen zu naheliegenden Zielen führen: Alpen, Frankreich, Flandern, Wangerooge, Südniedersachsen, Harz, Sauerland und das Ruhrgebiet. Gemessen an der Intensität der Erlebnisse gehörten zu den Highlights zweifellos die „Alpenüberquerung zu Fuß“ und „mit Fahrrad und Zelt von Bordeaux nach Marseille“. Da gehörten Spaß und körperliche Strapazen zum Programm.

Welche Rolle spielten hierbei Ihre Kontakte nach China, die Sie während Ihrer Bochumer Zeit intensiv gepflegt und ausgebaut haben?  

Die Reisen nach China habe ich nicht gezählt, aber es waren seit 1998 bestimmt mehr als zwanzig. Aus dem subtropischen Roterde-Gebiet, Shanghai und der nordostchinesischen Schwarzerderegion kamen persönlich bereichernde und fachlich erwähnenswerte Erkenntnisse zusammen, die einen Großteil meiner englischsprachigen Aufsätze ausmachen. Meine längsten freundschaftlichen China-Kontakte mit Kollegen der Chinesischen Akademie der Wissenschaften umfassen einen Zeitraum von fast 30 Jahren. Hinzu kamen belastbare Verbindungen zu Universitätskolleginnen und -kollegen, besonders intensiv in den letzten zehn Jahren mit der Tongji-Universität in Shanghai beim Aufbau des gemeinsamen Doppel-Master-Studiengangs „Transformation of urban Landscapes“.

Wie haben Sie die Umstellung vom Diplom-Studiengang auf das Bachelor-Master-System erlebt?

Ich gehörte zu den Befürwortern, die dafür plädierten, vom Diplom-Studiengang vorzeitig auf das Bachelor-Master-System umzusteigen. Wir in Bochum waren die ersten in Deutschland. Ich versprach mir durch mehr Leistungsüberprüfungen eine größere Studierintensität, denn in Bochum war – durch ministerielle Vorgaben erzwungen – die Anzahl der Prüfungen im Diplom-Studiengang bei gleichzeitigem Verzicht auf eine allumgreifende Vordiplomsprüfung so gefährlich gering geworden, dass mir Angst und Bange um die Qualität des Studiums wurde. Zudem bot die Reform die Gelegenheit, den Lehrstoff neu zu konzipieren. Das taten wir. Das war nicht schlecht und steht heute wieder an.
Aber dass der Bologna-Prozess uns diesen Unsinn mit den Kreditpunkten (CPs) verordnete, empfinde ich noch heute als eine Ungeheuerlichkeit. Ein paar mehr Leistungsbeurteilungen (Referat, mündliche Prüfung, Klausur): Ja, aber nicht alles CP-gewichtet in die Endnote des Studienabschlusses hineinzwängen. Das erzeugt Druck, das hatte fatale Auswirkungen auf das Studierverhalten; es leistete der oft beklagten Verschulung des Universitätsbetriebs Vorschub. Dieses Schielen auf gute Noten – extrinsische anstelle von intrinsischer Motivation! Das CP-System sollte die internationale Studierenden-Mobilität fördern, weil Studienleistungen angeblich leichter anerkannt werden können. Unsere Bochumer Anerkennungspraxis besaß allerdings bereits vor der Reform ein hohes Maß an Flexibilität, Interpretationsspielräume wurden genutzt. Heute ist vieles pseudogenau, wir vergeuden Zeit in Leistungs- und Notendokumentationen, die wir besser fachlichen Themen im Dialog mit interessierten Studierenden und der Forschung widmen sollten. Feedback und Beurteilungen fördern! Mängel und Defizite müssen nicht gleich ordinalskaliert in Zahlen kodifiziert werden (Be-Wert-ungen!), die Auswirkungen auf die akademische Biographie besitzen. Manche Studierende laufen erst später zur Hochform auf und haben nicht selten durch vielfältige Interessen einen breiteren Horizont. Theoretisch läuft im gestylten CP-System alles super; dumm nur, dass die Arbeit mit Menschen (Studierende und Lehrende mit ihren Fehlern und Schrulligkeiten) immer wieder für Ausnahmen und Besonderheiten sorgt, die das digitale System nicht verkraftet. Auch stören die Menschen das System. Eine Äußerung von damals ist mir in Erinnerung geblieben: „Sie müssen ihre Module so ändern, dass sie im System abgebildet werden können!“ In Variationen scheint mir dieser fragwürdige, nein widersinnige Standardisierungsgrundsatz bis heute zu gelten.

Und was sind nun Ihre Aufgaben als Seniorprofessor?

Als Seniorprofessor gehört die Lehre nicht mehr zu meinen Aufgaben. Ich gehe vielfältigen anderen Interessen nach und nenne nur einige wichtige:
  • Ich leite weiterhin das BMBF-Verbundprojekt zur Bewertung der Ökosystemleistungen ‚Grüner Infrastruktur‘ in Shanghai und im Ruhrgebiet.
  • Ich möchte (endlich) wissen, wie in den Mittelgebirgen (Sauerland) das Wasser durch den Boden in den Bach gelangt, welche Rolle dabei Hang- und Grundwasser spielen und wie man diese geheimnisvollen Zusammenhänge sinnvoll modellieren kann.
  • Seit Jahren warte ich darauf, dass das von der Emschergenossenschaft im Zuge des Emscher-Umbaus längst vorbereitete Gerinne für den Läppkes Mühlenbach in Oberhausen geflutet wird. Welches Zusammenspiel von Grundwasser und Bachwasser wird sich einstellen (Folgt die Realität der Theorie?). Welche morphologischen Veränderungen erfährt das Gerinne?
  • Im Leibniz-WissenschaftsCampus ReForm (‚Resources in Transformation‘; Bergbaumuseum, RUB, THGA, FU Hagen) führen wir spannende Diskussionen zum Verständnis von Ressourcen und ihrer Rolle für die Transformation von Gesellschaften. Beteiligt sind Archäologen, Sozio-, Geo- und Mineralogen, Wirtschaftswissenschaftler, Historiker und eben ich als Geograph, der nicht von den Mensch-Umwelt-Verwicklungen lassen kann (s.o.).
  • Als Mitglied im Research Department der RUB ‚Closed Carbon Cycle Economy‘ (CCCE), betreue ich eine Dissertation zu Verwendung rheinischer Braunkohle zur Bodenverbesserung mit.

Haben Sie auch private Pläne für die jetzt beginnende Zeit?

Gewiss, nun hätte ich Zeit zu reisen, und tatsächlich hoffe ich, in den nächsten Jahren mehr und ohne Rücksicht auf Semesterzeiten unterwegs zu sein. Mich plagte während der Semesterzeiten immer ein schlechtes Gewissen, mich wegen Konferenzen und auswärtigen Sitzungen in Vorlesungen oder Seminaren vertreten zu lassen. Wenn es die Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen in China verlangte, überwand ich mich gelegentlich doch. Dass ausgerechnet jetzt – aus einer Reihe von Gründen – der Austausch erschwert ist, stimmt mich schon traurig.
Nach 27 Jahren an der RUB, und zwar genau von 1994 bis 2021, lasst mich mit Blick auf meine liebste Freizeitbeschäftigung schmunzeln, dass über exakt dieselben Jahre der ehemalige Generalmusikdirektor der Bochumer Symphoniker Steven Sloane in Bochum gewirkt hat. Ich kenne ihn nicht persönlich, aber ich fühle mich in bester Gesellschaft, wenn ich jetzt aufhöre. Ich erwähne das, weil ich in Vorbereitung auf die nun anstehende Ruhezeit, regelmäßiger als zuvor Geige übe. Ich hoffe, es wird sich freudebringend auszahlen. Die Zukunft verspricht bereits jetzt Wahrheit werden zu lassen, was ich immer gesagt habe: In meinem nächsten Leben werde ich von Beruf „Hobby-Musiker“ – ohne Druck und ohne hochfliegende Ambitionen.
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